Wenn ich dann an meine Kinder, die ich hier in der Schule habe, denke, durchschnittlich jedes zehnte Kind ist irgendwie betroffen auf eine Art und Weise, und denke mich in meinem Klassenraum und zähle bis zehn und da kommt ein Gesicht, da kommt ein Gesicht. Dann bist du so… dann hältst du es nicht mehr aus.
Ich bin Hannes, ich bin Erzieher an einer Grundschule, und es ist mir total wichtig, dass wir über das Thema der sexualisierten Gewalt an Kindern sprechen. Ungefähr ein bis zwei Kinder pro Klasse in ganz Deutschland sind betroffen von sexualisierter Gewalt. Im Endeffekt findet sexualisierte Gewalt in jeder Schicht, in jedem Milieu und auch auf dem Land als auch in der Stadt statt. Betroffene sind um uns herum, in unserer Gesellschaft. Und die Wahrscheinlichkeit, dass du betroffene Kinder kennst, ist recht hoch. Zu glauben, dass das nicht in deinem Umfeld stattfindet ist tatsächlich Quatsch.
Ich war komplett auf Verdrängung. Ich war so im Abwehrmechanismus, weil ich es einfach nicht aushalte oder ausgehalten habe, dieses Thema irgendwie an mich heranzulassen. Was mir geholfen hat, von dieser Abwehr und dieser Blockade, diesem Thema gegenüber wegzukommen, war wirklich dieses bewusst werden, dass es etwas mit mir in meinem Umfeld zu tun hat und dass die Kinder, denen ich mit meiner Arbeit Schutz verspreche.
Es könnte sein, dass dieses Kind meine Hilfe braucht und ich kann auch nicht mehr so tun, als wäre das gar nicht so viel, oder als hätte ich das bestimmt schon gesehen, wenn das so wäre, sondern das war so: anscheinend sehe ich es nicht. Anscheinend sehe ich es nicht oder anscheinend wollte ich es vorher auch nicht sehen. Sich einfach bewusst sein darüber, dass ich als erwachsene Person einen Schutzauftrag dieser minderjährigen Person gegenüber innehabe.
Wichtig ist die Möglichkeit, dass es sexualisierte Gewalt überall geben kann, immer mitzudenken und einen Verdacht zuzulassen. Sexualisierte Gewalt kann alle Kinder betreffen, unabhängig von Geschlecht, Alter oder sozialem Umfeld. Falls sich eine Jugendliche oder ein Kind stark verändert, mache den ersten Schritt und sprich es an. Wenn sich dir jemand anvertraut Höre zu, nimm es ernst und glaube dem Kind. Sag, dass es richtig ist, darüber zu reden.
Einmal bin ich zum Schulpädagogen gegangen um mir Hilfe zu holen und habe ihm gesagt: ich möchte nicht mehr nach Hause. Bitte helfen sie mir. Dann ist er auf die glorreiche Idee gekommen, zu Hause anzurufen und ich habe ihn angefleht, das nicht zu tun und er hat es trotzdem gemacht, weil er mich, weil ich ein Kind war, nicht so ernst genommen hat und sich dachte: Ach ja, so bisschen Streitigkeiten mit der Mama zu Hause. Aber nein, ich wollte nicht nach Hause, weil ich fucking missbraucht wurde. Und er hat dann einfach angerufen und dann gab es zu Hause richtig Ärger und dann traut man sich ja noch weniger, sich jemanden anzuvertrauen.
Wenn du als erwachsene Person zu schnell bist und direkt die Eltern anrufst oder, oder, oder..
Aber du gar nicht weißt, wer zum Beispiel der Täter oder die Täterinnen ist, könnte es sein, dass du den Täter oder die Täterin eingeweiht hast. Damit bringst du das Kind erneut in eine Notsituation, wenn nicht sogar in eine Gefahrensituation. Also: erfahre ich vom Missbrauch, habe ich einen Verdacht auf Missbrauch? Durchatmen und Ruhe bewahren und die nächsten Schritte in Ruhe angehen. Jeder Fall und jeder Verdacht oder jedes Bauchgefühl muss individuell betrachtet werden. Hier helfen Fachberatungsstellen als auch das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch.
Das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch und die verschieden Fachberatungsstellen beraten dich kostenlos und anonym. Du musst keinen konkreten Verdacht haben. Ein komisches Bauchgefühl oder eine Frage reicht. Schreib auf, wenn du was beobachtest. Tausche dich mit vertrauenswürdigen Kolleginnen und Kollegen aus und schaue nicht weg. Schieb den Gedanken nicht weg. Mögliche betroffene Kinder und Jugendliche brauchen deine Hilfe. Doch auch ohne ein komisches Bauchgefühl oder bevor es überhaupt soweit kommt, kannst du Kinder und Jugendliche präventiv unterstützen. Zum Beispiel indem du ihnen vermittelst, dass das Thema sexualisierter Gewalt kein Tabu ist und ihnen damit die Möglichkeit gibst, darüber zu sprechen.
Wir hatten Sexualkundeunterricht, aber das Thema Missbrauch kam da nie drin vor. Allein zu wissen, es ist möglich, sich mit so einem Thema an Lehrerinnen und Lehrer oder an andere Erwachsene zu wenden, fand ich mega wichtig.
Ich hätte gerne in der Schule gelernt, dass so etwas nicht normal ist und wäre gerne besser darauf vorbereitet gewesen und hätte mir von meinem Umfeld gewünscht, dass die mehr aufpassen.
Prävention ist, wenn wir in Familien oder pädagogischen Einrichtungen mit Kindern und Jugendlichen offen sprechen. Über Gefühle, Grenzen, Geheimnisse, Sexualität und ihre eigenen Rechte. Wenn über sexuellen Missbrauch aufgeklärt wird, wenn schon kleine Kinder wissen, wie Körperteile heißen und sie erzählen dürfen, wenn sie jemand anfasst. Wenn Kinder wissen, dass wir sie ernst nehmen, ihnen zuhören und ihnen glauben.
Wenn sie sich im Alltag erfolgreich beschweren können und sie erleben, dass ihnen in schwierigen Situationen geholfen wird. Prävention ist die Aufgabe von Erwachsenen. Deshalb ist es wichtig, dass alle Fachkräfte und Bezugspersonen über sexualisierte Gewalt informiert sind. Hinweise wahr- und ernst nehmen und Beratungsstellen kennen. All das kann man lernen. Zum Beispiel mit der kostenlosen Online-Fortbildung „Was ist los mit Jaron?“ Prävention ist also, wenn alle Menschen, auch du und ich, sich dem Thema gegenüber öffnen und den Gedanken nicht mehr wegschieben, dass sexualisierte Gewalt überall passieren kann und passiert. Auch im eigenen Umfeld.